Herr Dr. Mittmann, wir erreichen bei den Corona-Impfungen nun eine zweite Stufe: Auch die Arztpraxen beteiligen sich an den Impfungen. Ein überfälliger Schritt?

Mehr als überfällig. Wir stehen – was die Durchimpfung der Bevölkerung angeht – immer noch im unteren europäischen Drittel, was angesichts der eigentlich dafür optimal vorhandenen Infrastruktur in Deutschland mit seinen wohnortnah gelegenen Praxen geradezu irrwitzig anmutet. Hier wird Jahr für Jahr bewiesen, dass es in kurzer Zeit gelingen kann, einen erheblichen Teil der Bevölkerung unter anderem gegen die saisonale Grippe zu impfen. Und dennoch waren bislang bürokratieüberladene Impfzentren das Mittel der Wahl. Angesichts des immensen Problemdrucks verstehe das wer will. Insoweit weist der Schritt, die hausärztlichen Kollegen nun in die Impfstrategie einzubeziehen, in eine richtige Richtung, wenngleich wir es uns natürlich wünschen würden, dass die fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen gleichermaßen einbezogen würden. Ein Umstand, der angesichts der nach wie vor nicht in ausreichendem Maße verfügbaren Impfstoffmengen allenfalls sehr kurzfristig tolerabel erscheint.
 
Die Privatpatienten und rein privatärztlich tätigen Praxen scheinen in den Überlegungen der Politik bislang noch nicht vorzukommen. Haben Sie Verständnis für ein solches Vorgehen?

Selbstverständlich steht vom Grundsatz her auch Privatpatienten der Weg zu einem kassenärztlich tätigen Hausarzt offen, um eine Impfung zu erhalten. Aber nach den jetzt geltenden Bestimmungen eben nicht bei einem rein privatärztlich tätigen Hausarzt, weil dieser nach Weisung des Ministers ausdrücklich keinen Impfstoff für seine Patienten bekommen darf, wie oben angeführt ja auch die Fachärzte nicht. Dies halten wir für skandalös, weil es schlicht kein Argument geben kann, warum nun manche privat versicherten Patienten auf diese Weise gezwungen werden, sich einen anderen Hausarzt zu suchen. Hier wird ein unter Umständen über Jahre aufgebautes Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt völlig entwertet, obwohl dies gerade im Hinblick auf die Priorisierung von Patienten und das Monitoring eventueller Impfrisiken von so elementarer Bedeutung wäre. Nehmen wir aber einmal an, dem Patienten gelingt es, einen neuen Hausarzt zum Zwecke der Impfung zu finden und auch dort einen Termin zu bekommen. Er würde in der Warteliste zur Impfung mit hoher Wahrscheinlichkeit nach unten rutschen, weil natürlich jeder Arzt zunächst die Patienten versorgen wird, die er selbst seit Jahren gut kennt. Man wird den Eindruck nicht los, dass hier durch die Hintertür ein Feldzug gegen die privatärztliche Versorgung stattfindet.
 
Wäre es – im Vergleich zu den Vertragsarztpraxen – organisatorisch schwieriger, die Privatärzte in ein Impfkonzept einzubingen?

Nein, aus meiner Sicht wäre dies nicht der Fall. Schon heute gibt es zuweilen solche Überschneidungen zwischen der privatärztlichen und der kassenärztlichen Versorgung. Man denke nur an die Beteiligung der Privatärzte am kassenärztlichen Notdienst, wozu diese zwangsverpflichtet sind. Im Wege eines Ersatzverfahrens könnte selbstverständlich auch ein rein privatärztlich tätiger Hausarzt über eine KV sein Honorar erhalten. Im Übrigen sprechen wir ja nicht einmal von einer regulären Kassenleistung nach EBM-Grundsätzen, sondern von einer Pauschale in Höhe von 20 Euro pro Impfung, die direkt aus dem Topf des Bundes bezahlt wird.
 
Der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) hat darauf hingewiesen, dass die Betriebsärzte bei den Impfungen nicht vergessen werden sollten. Stimmen Sie dem zu? Warum wäre das wichtig?

Auch dies ist natürlich völlig richtig und belegt noch einmal den eigentlichen Skandal, dass bis heute nicht nur zu wenig Impfstoff zur Verfügung steht, sondern auch politisches Kalkül den Versorgungsgesichtspunkt überlagert hat. Man möge sich einmal in Erinnerung rufen, worin die Funktion des Betriebsarztes besteht, wenn nicht in der Gruppenprophylaxe, dem Erhalt der Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit von zum Teil erheblichen Personenzahlen. Kurz: Sie wären sicher an vorderer Front in die Pandemiebekämpfung einzubeziehen. Auch dies lässt einen schalen Beigeschmack zurück.
 
Zusammenfassend: Was würden Sie der Politik nun raten – wie müssten die Gesetze geändert werden?

Ich würde vor allem raten, dass man wegkommt von niedrigschwelligen Verordnungen und wieder den Bundestag stärker einbezieht und zum Zentrum der Entscheidungen macht. Offenkundig ist die Regierungskoalition mit ihrem Latein, wenn nicht am Ende, so doch zumindest in mehreren Sackgassen gefangen. Die weiteren Schritte der Pandemiebekämpfung müssen dringend auf eine breitere gesellschaftliche Basis gestellt werden, damit die Bevölkerung bereit ist mitzugehen. Das gilt im Übrigen auch für die Informationspolitik der Bundesregierung, die nicht von der jeweiligen Situation bestimmt wird, sondern sich an dem bestehenden Mangel orientiert. Daraus ergeben sich mit der Zeit Widersprüche, die in Folge nur als Ziel- und Ratlosigkeit interpretiert werden können. Mit Sorge betrachte ich den heraufziehenden Wahlkampf im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl.
 

07.04.2021 09:38, Autor: js, © änd Ärztenachrichtendienst Verlags-AG
Quelle: https://www.aend.de/article/211463